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Einführung
Wenn man von der Kirche in Deutschland sprach, war es gebräuchlich,
dabei den Ausdruck »Volkskirche« zu verwenden. Das tat man selbst in dem
Wissen, daß die Kirche in Deutschland konfessionell gespalten ist. Das
Christentum – in beiden konfessionellen Ausprägungen – hatte das Leben
in unserem Land derart geprägt, daß diese Prägung auch den Alltag
bestimmte, ganz gleich ob jemand Gläubig war oder nicht. Die vielen
kirchlichen Feiertage, die auch noch heute gesetzlich geschützt sind, geben
davon Zeugnis. Doch wissen die älteren, daß es früher noch mehr
kirchliche Feiertage gab, die das gesellschaftliche Leben bestimmten. Daß
deren Abschaffung als staatliche Feiertage überhaupt möglich war, ist nur
dadurch zu erklären, daß sich im Kirchenvolk nur noch wenige fanden, die
einen kürzeren Urlaub in Kauf genommen hätten, »nur« um den kirchlichen
Feiertag nach alter Form begehen zu können. Heute schützen Gewerkschaften
die kirchlichen Feiertage mehr als es manche Christen täten. Im
christlichen Sinne gelebt, werden sie schon lange nicht mehr; beliebt ist
vielmehr ihr Zusammenfall mit dem Sonntag zum »langen Wochenende«.
Dies sei nur als ein Beispiel dafür genannt, daß Christentum und Kirche
das allgemeine Leben in unserem Land nicht mehr prägen, und daß der
Ausdruck »Volkskirche« deshalb nicht mehr ohne weiteres und im alten Sinn
auf unsere Kirche angewandt werden kann.
Zur Situation der Gemeinden
Es ist kaum möglich, die Situation der heutigen Gemeinden mit wenigen
Worten treffend darzustellen. Denn einmal ist die Situation der Gemeinden
von Ort zu Ort und je nach ihrer Geschichte und Zusammensetzung
unterschiedlich. Zum anderen kann man nicht ohne weiteres von meßbaren
Daten und Zahlen auf den inneren Zustand einer Gemeinde schließen; denn
Zahlen spielen in Fragen des Glaubens nicht die entscheidende Rolle; sie
machen uns wohl aber oft auf tiefer liegende Sachverhalte aufmerksam.
Deshalb zunächst ein paar Feststellungen:
Feststellungen
- In fast allen Gemeinden ist ein starker Rückgang des
Gottesdienstbesuches zu beobachten. In den letzten zehn Jahren hat die
Zahl der Gottesdienstbesucher um 21 % abgenommen.
- Stark Rückläufig ist die zahl der Beichten. Das gibt zu denken,
zumal vielfach die Teilnahme an Bußgottesdiensten ebenfalls
rückläufig ist.
- Viele Brautpaare lassen sich nicht mehr kirchlich trauen. Eheprobleme
und Ehescheidungen nehmen in den Gemeinden zu. Die kirchliche Praxis im
Umgang mit Wiederverheirateten Geschiedenen führte zusätzlich zur
Entfremdung dieses Personenkreises.
- In den letzten zehn Jahren haben durchschnittlich pro Jahr ca. 2.000
Katholiken – das sind 0,2 % aller Katholiken – ihren Austritt aus
der Kirche erklärt. Zwar ist diese Zahl nicht so hoch wie in der
evangelischen Kirche, doch sollte sie uns nicht gleichgültig lassen.
- Die kirchlichen Vereine, die früher im Leben der Gemeinden oft eine
wichtige Rolle spielten, haben – besonders in den Städten – heute
an Bedeutung und Einfluß verloren. Es mangelt oft an Mitgliedern, die
bereit sind, sich für das Vereinsleben und damit für das Gemeindeleben
zu engagieren.
- Die Zahl der kirchlichen Berufe nimmt zusehends ab. In unserem Bistum
scheiden durch Krankheit, Alter oder Heirat jährlich etwa 30 Priester
aus dem aktiven Dienst aus. Im gleichen Zeitraum kamen in den letzten
Jahren durchschnittlich 12 Neupriester hinzu. Die Zahl ist in den
letzten beiden Jahren deutlich höher gewesen, was aber lediglich mit
den geburtenstarken Jahrgängen zu erklären ist.
- Infolge der starken Überalterung und des Mangels an neuen
Ordensberufen werden die Ordensgemeinschaften in den nächsten Jahren
immer mehr Kindergärten, ambulante Krankenpflegestationen,
Krankenhäuser und Altenheime aufgeben müssen.
- Der Einsatz von Laienmitarbeitern und -mitarbeiterinnen als
Sozialarbeiter, Gemeindereferenten und Katecheten hat sich bewährt. Der
Bedarf jedoch ist weitaus größer als die vorhandenen Kräfte.
- Der schulische Religionsunterricht befindet sich in einer inneren
Krise. Zweifellos bemühen sich viele Religionslehrer nach Kräften,
ihren Schülern unseren Glauben unverkürzt in einer alters- und
zeitgemäßen Weise nahezubringen.
Doch befassen sich manche Religionslehrer intensiv mit sozialkundlichen
und gesellschaftlichen Themen, ohne in genügendem Maße zur religiösen
Dimension und zu einer Konfrontation mit dem christlichen Glauben
weiterzuführen.
Wieder andere beschränken sich auf das Weitergeben von Glaubensformeln,
ohne auf die Lebens- und Erfahrungswelt der Schüler einzugehen, oder
konfrontieren die Jugendlichen mit Formen des Glaubensvollzugs, die von
diesen nicht mehr verstanden werden.
Die »Problem«-Gruppen
- Sehr viele Jugendliche fühlen sich in ihrer Gemeinde nicht zu Hause.
Ihrer Meinung nach pflegen die Gemeinden allzu oft nur ihren
Innenbereich und leben an der gesellschaftlichen Wirklichkeit und an den
Problemen der jüngeren Generation weithin vorbei. Sie meinen überdies,
kirchliche Amtsträger pochten leicht zu sehr auf ihre Autorität.
Wo solche Einschätzungen vorherrschen, sind kaum noch
Berufsentscheidungen für den kirchlichen Dienst zu erwarten.
- Sehr viele, die Tag für Tag in den Fabriken und Betrieben arbeiten,
fühlen sich in der Gemeinde nicht verstanden, weil nach ihrem Empfinden
die Probleme der Arbeitswelt in Verkündigung und Leben der Gemeinde
kaum eine Rolle spielen. Sie meinen, unter den aktiven Gemeindegliedern
zu wenige ihresgleichen zu finden.
- Aber auch viele Intellektuelle finden kein Verhältnis zur Gemeinde.
Manche von ihnen haben Schwierigkeiten, Denken und Glauben zu
vereinbaren; manche haben auch das Gefühl, daß kritisches Denken in
der Gemeinde nicht sehr gefragt ist oder gar als verdächtig gilt.
Nicht wenige Christen, die sich der Lehre und Praxis der Kirche nicht
mehr voll zu eigen machen, blicken aber dennoch mit Erwartungen auf die
Kirche. Aufgrund des vielfach noch vorherrschenden Gemeindeverständnisses
meinen sie jedoch, dort keinen Platz mehr zu haben.
Trotz dieser Feststellungen muß betont werden, daß es in vielen
Gemeinden deutliche Ansätze für eine Erneuerung im Sinne des Zweiten
Vatikanischen Konzils gibt. Die Mitarbeit vieler Laien im Pfarrgemeinderat,
im Kirchenvorstand und in den vielfältigen Diensten der Gemeinde verdient
Anerkennung und gibt Hoffnung.
Wo Priester und Laien gut zusammenarbeiten, um das Gemeindeleben zu
aktivieren, zeigen sich schon heute Erfolge. Aber wir dürfen uns die Frage
nicht ersparen, ob diese guten Ansätze an dem besorgniserregenden
Gesamtbild viel ändern.
Wir befinden uns heute in einer Übergangssituation. Bisher waren
gesellschaftliches und kirchliches Leben vielfältig und oft sehr
unmittelbar verbunden: Fast alle Menschen waren getauft und wurden wie
selbstverständlich in das kirchliche Leben hineingeboren. Die Kirche war
Volkskirche. Sehr viele standen und stehen – wenn auch in sehr
unterschiedlichem Maße – unter dem Einfluß der christlichen Lehre. Die
Gesellschaft als ganze war christlich geprägt.
Wenn nicht alles trügt, erleben wir heute den Übergang von einer
Volkskirche, der man selbstverständlich zugehört, zu einer Kirche, für
die man sich persönlich entscheiden muß. Wer Christ bleiben will, wird
sich dazu immer wieder entscheiden müssen. Die Kirche wird in Zukunft einen
anderen gesellschaftlichen Stellenwert haben.
Gründe – Hintergründe
Die Gründe und Hintergründe für diese Entwicklung sind sehr
vielschichtig. Sie gehen zeitlich sehr weit zurück. Wir müssen schon nach
Ursachen suchen, die im Anfang dieses Jahrhunderts liegen. Denn wie anders
ist es zu erklären, daß nur verhältnismäßig geringer staatlicher Druck
in der DDR es schaffte, innerhalb einer Generation eine atheistische
Gesellschaft zu errichten, in der die Christen nur eine verschwindende
Minderheit darstellen.
Sicherlich trifft zu, was Papst Leo XIIII. bereits sagte, daß die Kirche
die Arbeiterschaft verloren hat. Und in diesem Zusammenhang hat sie an
Autorität und Glaubwürdigkeit verloren. Dazu ist vor dem Hintergrund des
deutschen Fiaskos für die Zeit nach dem Krieg ein allgemeiner
Autoritätsverlust zu verzeichnen:
Alle Personen und Institutionen, die einst Autoritäten waren, werden nun
kritisch unter die Lupe genommen. Niemand besitzt mehr Autorität von sich
aus sondern muß sich durch gute Argumente als Autorität erweisen.
Dieser Autoritätsverlust hat in ganz deutlicher Weise auch die Kirche
getroffen, und ein Pochen auf alte Verpflichtungen reicht heute nicht mehr
als Argument aus.
Konsequenzen
Diese Überlegungen müssen zu einem Umdenken in den Gemeinden und bei
jedem einzelnen Gläubigen führen. Noch immer verstehen sich zu viele zu
sehr nur als Adressaten der Seelsorge. Sie lassen sich betreuen, anstatt
sich mitverantwortlich zu wissen. Selbst in unseren Gottesdiensten steht bei
vielen nicht so sehr das Bewußtsein der betenden Gemeinschaft als die
persönliche Erbauung im Vordergrund.
Das eine Zeugnis aber braucht viele Zeugen. Der eine Glaube braucht viele
Träger.
Deshalb ist die bisherige Vorstellung überholt, daß der Priester oder
die hauptamtlichen Seelsorgskräfte allein die Verantwortung für das
religiöse Leben in der Gemeinde tragen.
Die Aufgabe des Priesters bleibt es, Impulse zu geben, Kräfte zu
motivieren und zu aktivieren. Vor allem hat er im besonderen Auftrag des
Herrn durch Wort und Sakrament den Dienst der Einheit zu vollziehen, damit
die verschiedenen Gruppen und Dienste wie lebendige Rebzweige am Weinstock
Christi verbunden bleiben.
Aber auch der eifrigste Priester kann nicht Tausenden von Menschen das
Zeugnis lebendigen Glaubens geben, sofern man darunter nicht nur die Predigt
versteht sondern die Vermittlung persönlicher und echter Lebenserfahrung.
Deshalb müssen viele zur Mitarbeit und zum Glaubenszeugnis im Dienst der
Gemeinde befähigt werden.
Keiner glaubt für sich allein
In der zu Anfang aufgezeigten Situation unserer Kirche ist – heutzutage
wie noch nie – jeder auf das Glaubenszeugnis des anderen angewiesen. Durch
den Glauben und das Gebet anderer wird er in seinem eigenen Glauben und
Gebet gestärkt. Einer ist des anderen Glaubenshelfer. So lehrt es die
Erfahrung seit eh und je. Die meisten, die zum Glauben finden, gelangen dazu
über den Glauben anderer, die ihren Glauben nicht in sich verschließen
sondern sich klar zu ihm bekennen. Das Vorbild gelebten Glaubens ist von
jeher die beste Katechese.
In diesem Sinne konnte der Bischof Cyrill von Alexandrien ( † 444)
auf die Frage, was er tue, wenn er einen Menschen zum Glauben führen wolle,
antworten: »Ich lasse ihn ein Jahr bei mir wohnen.«
Deshalb reicht es nicht, als Christ seinen Glauben rein privat zu leben.
Der Glaube muß auch im eigenen Lebensbereich bezeugt werden. Damit ist
nicht jene aufdringliche Weise gemeint, die wir gelegentlich von
Sektengruppen erfahren. Notwendig ist aber, daß der Christ nicht schweigt,
wenn Glaube und Kirche unfair angegriffen werden. Und gemeint ist vor allem,
daß jeder durch sein Leben und verhalten in Familie und Beruf erkennen
läßt, daß das sinngebende Fundament dieses Lebens der Glaube ist.
Ein derartiges Glaubenszeugnis ist freilich nicht möglich ohne eine
solide Vertiefung des eigenen Glaubens und ohne eine Aufarbeitung der
eigenen Glaubensprobleme.
Die Glaubens-Gemeinschaft
Eine wesentliche Voraussetzung für den persönlichen Glaubensvollzug
ist, wie bereits gesagt, die Glaubensgemeinschaft. Der Glaube wird das
persönliche Leben nachhaltiger prägen, je mehr er immer von neuem
gestärkt wird in einer lebendigen Gemeinde.
Eine lebendige Gemeinde entsteht noch nicht ohne weiteres dadurch, daß
neuerdings unsere Pfarrgemeinderäte existieren.
Eine wirksame Glaubenbsvermittlung in unseren Gemeinde setzt voraus, daß
viele überschaubare kleine Gruppen bestehen, in denen Gemeinschaft des
Glaubens erfahrbar wird und in denen der einzelne mit seinen Fragen zur
Sprache kommt und verstanden wird. Sind einmal derartige Kontakte
hergestellt, dann wird von daher auch der zur Zeit oft als anonym und
unpersönlich empfundene sonntägliche Gottesdienst der Gesamtgemeinde eine
Bereicherung erfahren.
Diesen Vorgang einer ständigen Einführung uns Weiterführung in Glauben
und Gläubigkeit in der Gemeinde und durch die Gemeinde bezeichnen wir als
Gemeindekatechese. Sie wendet sich nicht nur an Kinder und Jugendliche
sondern an alle Altersstufen, nicht zuletzt an die Distanzierten und
Suchenden.
Diese Einführung in den Glauben meint nicht nur Vermittlung von
Glaubenswahrheiten, sondern sie erstrebt vor allem auch Erfahrung von
Glaubensgemeinschaft in der Gemeinde und im Erleben des Gottesdienstes.
(C) Heribert Ester 1987
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