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WAS IST LOS
MIT DER VOLKSKIRCHE ?


Es ist heute nicht mehr selbstverständlich, Christ zu sein,
und in naher Zukunft wird sich daran nichts mehr ändern:
Christsein wird immer mehr zur Sache der persönlichen
Überlegung und Entscheidung und dadurch anspruchsvoller und schwieriger
als in der Vergangenheit.
                                                    Wilhelm Volk, Bischof von Limburg, 1976

Einführung

Wenn man von der Kirche in Deutschland sprach, war es gebräuchlich, dabei den Ausdruck »Volkskirche« zu verwenden. Das tat man selbst in dem Wissen, daß die Kirche in Deutschland konfessionell gespalten ist. Das Christentum – in beiden konfessionellen Ausprägungen – hatte das Leben in unserem Land derart geprägt, daß diese Prägung auch den Alltag bestimmte, ganz gleich ob jemand Gläubig war oder nicht. Die vielen kirchlichen Feiertage, die auch noch heute gesetzlich geschützt sind, geben davon Zeugnis. Doch wissen die älteren, daß es früher noch mehr kirchliche Feiertage gab, die das gesellschaftliche Leben bestimmten. Daß deren Abschaffung als staatliche Feiertage überhaupt möglich war, ist nur dadurch zu erklären, daß sich im Kirchenvolk nur noch wenige fanden, die einen kürzeren Urlaub in Kauf genommen hätten, »nur« um den kirchlichen Feiertag nach alter Form begehen zu können. Heute schützen Gewerkschaften die kirchlichen Feiertage mehr als es manche Christen täten. Im christlichen Sinne gelebt, werden sie schon lange nicht mehr; beliebt ist vielmehr ihr Zusammenfall mit dem Sonntag zum »langen Wochenende«.

Dies sei nur als ein Beispiel dafür genannt, daß Christentum und Kirche das allgemeine Leben in unserem Land nicht mehr prägen, und daß der Ausdruck »Volkskirche« deshalb nicht mehr ohne weiteres und im alten Sinn auf unsere Kirche angewandt werden kann.

 

Zur Situation der Gemeinden

Es ist kaum möglich, die Situation der heutigen Gemeinden mit wenigen Worten treffend darzustellen. Denn einmal ist die Situation der Gemeinden von Ort zu Ort und je nach ihrer Geschichte und Zusammensetzung unterschiedlich. Zum anderen kann man nicht ohne weiteres von meßbaren Daten und Zahlen auf den inneren Zustand einer Gemeinde schließen; denn Zahlen spielen in Fragen des Glaubens nicht die entscheidende Rolle; sie machen uns wohl aber oft auf tiefer liegende Sachverhalte aufmerksam.

Deshalb zunächst ein paar Feststellungen:

 

Feststellungen

  • In fast allen Gemeinden ist ein starker Rückgang des Gottesdienstbesuches zu beobachten. In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der Gottesdienstbesucher um 21 % abgenommen.
  • Stark Rückläufig ist die zahl der Beichten. Das gibt zu denken, zumal vielfach die Teilnahme an Bußgottesdiensten ebenfalls rückläufig ist.
  • Viele Brautpaare lassen sich nicht mehr kirchlich trauen. Eheprobleme und Ehescheidungen nehmen in den Gemeinden zu. Die kirchliche Praxis im Umgang mit Wiederverheirateten Geschiedenen führte zusätzlich zur Entfremdung dieses Personenkreises.
  • In den letzten zehn Jahren haben durchschnittlich pro Jahr ca. 2.000 Katholiken – das sind 0,2 % aller Katholiken – ihren Austritt aus der Kirche erklärt. Zwar ist diese Zahl nicht so hoch wie in der evangelischen Kirche, doch sollte sie uns nicht gleichgültig lassen.
  • Die kirchlichen Vereine, die früher im Leben der Gemeinden oft eine wichtige Rolle spielten, haben – besonders in den Städten – heute an Bedeutung und Einfluß verloren. Es mangelt oft an Mitgliedern, die bereit sind, sich für das Vereinsleben und damit für das Gemeindeleben zu engagieren.
  • Die Zahl der kirchlichen Berufe nimmt zusehends ab. In unserem Bistum scheiden durch Krankheit, Alter oder Heirat jährlich etwa 30 Priester aus dem aktiven Dienst aus. Im gleichen Zeitraum kamen in den letzten Jahren durchschnittlich 12 Neupriester hinzu. Die Zahl ist in den letzten beiden Jahren deutlich höher gewesen, was aber lediglich mit den geburtenstarken Jahrgängen zu erklären ist.
  • Infolge der starken Überalterung und des Mangels an neuen Ordensberufen werden die Ordensgemeinschaften in den nächsten Jahren immer mehr Kindergärten, ambulante Krankenpflegestationen, Krankenhäuser und Altenheime aufgeben müssen.
  • Der Einsatz von Laienmitarbeitern und -mitarbeiterinnen als Sozialarbeiter, Gemeindereferenten und Katecheten hat sich bewährt. Der Bedarf jedoch ist weitaus größer als die vorhandenen Kräfte.
  • Der schulische Religionsunterricht befindet sich in einer inneren Krise. Zweifellos bemühen sich viele Religionslehrer nach Kräften, ihren Schülern unseren Glauben unverkürzt in einer alters- und zeitgemäßen Weise nahezubringen.
    Doch befassen sich manche Religionslehrer intensiv mit sozialkundlichen und gesellschaftlichen Themen, ohne in genügendem Maße zur religiösen Dimension und zu einer Konfrontation mit dem christlichen Glauben weiterzuführen.
    Wieder andere beschränken sich auf das Weitergeben von Glaubensformeln, ohne auf die Lebens- und Erfahrungswelt der Schüler einzugehen, oder konfrontieren die Jugendlichen mit Formen des Glaubensvollzugs, die von diesen nicht mehr verstanden werden.

 

Die »Problem«-Gruppen

  • Sehr viele Jugendliche fühlen sich in ihrer Gemeinde nicht zu Hause. Ihrer Meinung nach pflegen die Gemeinden allzu oft nur ihren Innenbereich und leben an der gesellschaftlichen Wirklichkeit und an den Problemen der jüngeren Generation weithin vorbei. Sie meinen überdies, kirchliche Amtsträger pochten leicht zu sehr auf ihre Autorität.
    Wo solche Einschätzungen vorherrschen, sind kaum noch Berufsentscheidungen für den kirchlichen Dienst zu erwarten.
  • Sehr viele, die Tag für Tag in den Fabriken und Betrieben arbeiten, fühlen sich in der Gemeinde nicht verstanden, weil nach ihrem Empfinden die Probleme der Arbeitswelt in Verkündigung und Leben der Gemeinde kaum eine Rolle spielen. Sie meinen, unter den aktiven Gemeindegliedern zu wenige ihresgleichen zu finden.
  • Aber auch viele Intellektuelle finden kein Verhältnis zur Gemeinde. Manche von ihnen haben Schwierigkeiten, Denken und Glauben zu vereinbaren; manche haben auch das Gefühl, daß kritisches Denken in der Gemeinde nicht sehr gefragt ist oder gar als verdächtig gilt.

Nicht wenige Christen, die sich der Lehre und Praxis der Kirche nicht mehr voll zu eigen machen, blicken aber dennoch mit Erwartungen auf die Kirche. Aufgrund des vielfach noch vorherrschenden Gemeindeverständnisses meinen sie jedoch, dort keinen Platz mehr zu haben.

Trotz dieser Feststellungen muß betont werden, daß es in vielen Gemeinden deutliche Ansätze für eine Erneuerung im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils gibt. Die Mitarbeit vieler Laien im Pfarrgemeinderat, im Kirchenvorstand und in den vielfältigen Diensten der Gemeinde verdient Anerkennung und gibt Hoffnung.

Wo Priester und Laien gut zusammenarbeiten, um das Gemeindeleben zu aktivieren, zeigen sich schon heute Erfolge. Aber wir dürfen uns die Frage nicht ersparen, ob diese guten Ansätze an dem besorgniserregenden Gesamtbild viel ändern.

Wir befinden uns heute in einer Übergangssituation. Bisher waren gesellschaftliches und kirchliches Leben vielfältig und oft sehr unmittelbar verbunden: Fast alle Menschen waren getauft und wurden wie selbstverständlich in das kirchliche Leben hineingeboren. Die Kirche war Volkskirche. Sehr viele standen und stehen – wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße – unter dem Einfluß der christlichen Lehre. Die Gesellschaft als ganze war christlich geprägt.

 

Wenn nicht alles trügt, erleben wir heute den Übergang von einer Volkskirche, der man selbstverständlich zugehört, zu einer Kirche, für die man sich persönlich entscheiden muß. Wer Christ bleiben will, wird sich dazu immer wieder entscheiden müssen. Die Kirche wird in Zukunft einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert haben.

 

Gründe – Hintergründe

Die Gründe und Hintergründe für diese Entwicklung sind sehr vielschichtig. Sie gehen zeitlich sehr weit zurück. Wir müssen schon nach Ursachen suchen, die im Anfang dieses Jahrhunderts liegen. Denn wie anders ist es zu erklären, daß nur verhältnismäßig geringer staatlicher Druck in der DDR es schaffte, innerhalb einer Generation eine atheistische Gesellschaft zu errichten, in der die Christen nur eine verschwindende Minderheit darstellen.

Sicherlich trifft zu, was Papst Leo XIIII. bereits sagte, daß die Kirche die Arbeiterschaft verloren hat. Und in diesem Zusammenhang hat sie an Autorität und Glaubwürdigkeit verloren. Dazu ist vor dem Hintergrund des deutschen Fiaskos für die Zeit nach dem Krieg ein allgemeiner Autoritätsverlust zu verzeichnen:

Alle Personen und Institutionen, die einst Autoritäten waren, werden nun kritisch unter die Lupe genommen. Niemand besitzt mehr Autorität von sich aus sondern muß sich durch gute Argumente als Autorität erweisen.

Dieser Autoritätsverlust hat in ganz deutlicher Weise auch die Kirche getroffen, und ein Pochen auf alte Verpflichtungen reicht heute nicht mehr als Argument aus.

 

Konsequenzen

Diese Überlegungen müssen zu einem Umdenken in den Gemeinden und bei jedem einzelnen Gläubigen führen. Noch immer verstehen sich zu viele zu sehr nur als Adressaten der Seelsorge. Sie lassen sich betreuen, anstatt sich mitverantwortlich zu wissen. Selbst in unseren Gottesdiensten steht bei vielen nicht so sehr das Bewußtsein der betenden Gemeinschaft als die persönliche Erbauung im Vordergrund.

Das eine Zeugnis aber braucht viele Zeugen. Der eine Glaube braucht viele Träger.

Deshalb ist die bisherige Vorstellung überholt, daß der Priester oder die hauptamtlichen Seelsorgskräfte allein die Verantwortung für das religiöse Leben in der Gemeinde tragen.

Die Aufgabe des Priesters bleibt es, Impulse zu geben, Kräfte zu motivieren und zu aktivieren. Vor allem hat er im besonderen Auftrag des Herrn durch Wort und Sakrament den Dienst der Einheit zu vollziehen, damit die verschiedenen Gruppen und Dienste wie lebendige Rebzweige am Weinstock Christi verbunden bleiben.

Aber auch der eifrigste Priester kann nicht Tausenden von Menschen das Zeugnis lebendigen Glaubens geben, sofern man darunter nicht nur die Predigt versteht sondern die Vermittlung persönlicher und echter Lebenserfahrung. Deshalb müssen viele zur Mitarbeit und zum Glaubenszeugnis im Dienst der Gemeinde befähigt werden.

 

Keiner glaubt für sich allein

In der zu Anfang aufgezeigten Situation unserer Kirche ist – heutzutage wie noch nie – jeder auf das Glaubenszeugnis des anderen angewiesen. Durch den Glauben und das Gebet anderer wird er in seinem eigenen Glauben und Gebet gestärkt. Einer ist des anderen Glaubenshelfer. So lehrt es die Erfahrung seit eh und je. Die meisten, die zum Glauben finden, gelangen dazu über den Glauben anderer, die ihren Glauben nicht in sich verschließen sondern sich klar zu ihm bekennen. Das Vorbild gelebten Glaubens ist von jeher die beste Katechese.

In diesem Sinne konnte der Bischof Cyrill von Alexandrien (444) auf die Frage, was er tue, wenn er einen Menschen zum Glauben führen wolle, antworten: »Ich lasse ihn ein Jahr bei mir wohnen.«

Deshalb reicht es nicht, als Christ seinen Glauben rein privat zu leben. Der Glaube muß auch im eigenen Lebensbereich bezeugt werden. Damit ist nicht jene aufdringliche Weise gemeint, die wir gelegentlich von Sektengruppen erfahren. Notwendig ist aber, daß der Christ nicht schweigt, wenn Glaube und Kirche unfair angegriffen werden. Und gemeint ist vor allem, daß jeder durch sein Leben und verhalten in Familie und Beruf erkennen läßt, daß das sinngebende Fundament dieses Lebens der Glaube ist.

Ein derartiges Glaubenszeugnis ist freilich nicht möglich ohne eine solide Vertiefung des eigenen Glaubens und ohne eine Aufarbeitung der eigenen Glaubensprobleme.

 

Die Glaubens-Gemeinschaft

Eine wesentliche Voraussetzung für den persönlichen Glaubensvollzug ist, wie bereits gesagt, die Glaubensgemeinschaft. Der Glaube wird das persönliche Leben nachhaltiger prägen, je mehr er immer von neuem gestärkt wird in einer lebendigen Gemeinde.

Eine lebendige Gemeinde entsteht noch nicht ohne weiteres dadurch, daß neuerdings unsere Pfarrgemeinderäte existieren.

Eine wirksame Glaubenbsvermittlung in unseren Gemeinde setzt voraus, daß viele überschaubare kleine Gruppen bestehen, in denen Gemeinschaft des Glaubens erfahrbar wird und in denen der einzelne mit seinen Fragen zur Sprache kommt und verstanden wird. Sind einmal derartige Kontakte hergestellt, dann wird von daher auch der zur Zeit oft als anonym und unpersönlich empfundene sonntägliche Gottesdienst der Gesamtgemeinde eine Bereicherung erfahren.

Diesen Vorgang einer ständigen Einführung uns Weiterführung in Glauben und Gläubigkeit in der Gemeinde und durch die Gemeinde bezeichnen wir als Gemeindekatechese. Sie wendet sich nicht nur an Kinder und Jugendliche sondern an alle Altersstufen, nicht zuletzt an die Distanzierten und Suchenden.

Diese Einführung in den Glauben meint nicht nur Vermittlung von Glaubenswahrheiten, sondern sie erstrebt vor allem auch Erfahrung von Glaubensgemeinschaft in der Gemeinde und im Erleben des Gottesdienstes.

 

(C) Heribert Ester 1987


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