2. Fastensonntag:   
Aussichten
    

Von allen biblischen Motiven ist mir die Erzählung von der Verklärung Jesu auf dem Berg Tabor die liebste. Denn sie eröffnet mir immer wieder neue Sichtweisen jenes Geschehens, das wir nur mit dem Herzen, nicht aber mit dem Verstand ergründen können, gleichwohl das beschriebene Geschehen nicht gegen unseren Verstand spricht. Was dort geschah, als Jesus seinen Freunden in gleißendem Licht erschien, Mose und Elija bei ihm, das läßt sich in seinem "Wie" nicht fassen, wohl aber in seinem "Was". Die Jünger erfahren – vielleicht zum ersten Mal – daß sie ihren Freund und Lehrer nie werden wirklich begreifen können, weder mit der Hand noch mit dem Verstand. Er zeigt ihnen, daß er – selbst in der Nähe – ihnen immer auch fremd sein wird.
So erleben viele Menschen Gott. Weil sie seine Nähe so verstehen, als müsse er ständig eingreifen in das Weltgeschehen, daß eben doch von Menschen verunstaltet wird. Sie legen Gott ab, weil er nicht das "Machtwort" spricht. Sie legen ihn beiseite, weil sie ihn nicht mit dem Herzen anschauen und vergessen, daß nur vom Herzen her der Verstand seine Kraft bekommt. Mit jedem Schlag des Herzens kann ein Gedanke freigesetzt werden, aber nie ein Gedanke den Schlag des Herzens ersetzen.
Die Jünger am Berg Tabor haben diese Erfahrung gemacht. Ihr Herz schäumt förmlich über. Wovon das Herz voll ist, davon redet der Mund. Sie sprechen miteinander darüber, was sie erlebt haben und wie der jeweils andere es für sich deutet. Bis Jesus ihnen schließlich verbietet, mit anderen darüber zu sprechen. Das Wunder soll nicht zerredet werden. Jedes Wunder ist eben "nur" ein Ausblick!

 


(C) 2003 Heribert Ester