Aus Untertanen wurden Demokraten
Im Gewissen kann kein Mensch
einen anderen festlegen oder befreien
Die religiöse Sprachlosigkeit, für die
Christen selbst mitverantwortlich sind, ist eine Folge der
Vernachlässigung des Nachdenkens über unsere Lebenssituation.
Diese hat sich m der Moderne und vor allem der Postmoderne ganz
erheblich verändert. Aus Untertanen im Kaiserreich wurden zur
Demokratie Freigelassene, die unvorbereitet mit dem Geschenk der
Selbständigkeit konfrontiert wurden. Auch mit allen damit verbundenen
Risiken. Vor allem im privaten und wirtschaftlichen Bereich.
Aber auch gegenüber den Entwicklungen der Technik, der Politik
und des Rechtes, die keineswegs nur Fortschritte sind. Die Menschen
mußten lernen, selbständig zu werden, um überleben zu können.
Die Kirchenhierarchie hat dies leider noch immer nicht in vollem
Umfang realisiert. Natürlich gibt es nach wie vor viele Menschen,
denen es genügt, wenn man ihnen sagt "was richtig - sprich wahr
- ist, und wie es geht". Diesen soll man die Führung im Glauben
nicht verweigern.
Daneben aber haben viele gelernt, nach dem Sinn der Dinge zufragen
und sich der eigenen Verantwortung bewußt zu werden. Die persönliche
Gewissensentscheidung st in den Vordergrund getreten. Damit auch die
Konfrontation mit den Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit und die
Verantwortung, sich einen eigenen Standpunkt zu bilden. Das aber hat
mit Beliebigkeit oder Unverbindlichkeit überhaupt nichts zu tun.
Eher ist es Bescheidenheit gegenüber der Einsicht menschlicher
Unzulänglichkeit. Im Gewissen kann kein Mensch einen anderen
festlegen oder befreien. Auch nicht durch eine Fiktion von "Unfehlbarkeit".
Dr. Wolfgang Deinhart,
Eichstätt in einem Leserbrief
Christ in der Gegenwart
S. 96 (Nr. 12/05) |