Zeitsplitter   

Nach außen "Papa mobile",
nach innen "Papa immobile"

Mehr als ein viertel Jahrhundert leitete er die Kirche, und bei seinem Tod waren Menschen allen Alters und überall auf der Welt betroffen, schmückten Bilder von ihm mit Blumen und Kerzen, besuchten Kirchen zum Gebet – sein Begräbnis wurde von so vielen Menschen besucht wie wohl noch kein Begräbnis eines Menschen je zuvor:

Die Menschen hatten das Gefühl, ein Familienmitglied verloren zu haben. Aber – mehr noch als ein Familienmitglied – haben wir einen Papst immer nur für eine begrenzte Zeit.
Päpste kommen und gehen. So wurde im Mittelalter vor dem Gesicht eines neugekrönten Papstes ein Büschel Wolle verbrannt und ihm zugerufen: "Sic transit gloria mundi – So vergeht der Glanz der Welt!"

Die Älteren unter uns hatten das Glück, mehrere Päpste zu erleben. Ja, ich nenne es ein Glück. Denn bei aller Beständigkeit, nach der wir uns sehnen, ist es nicht in erster Linie der Mensch Papst, sondern der Dienst des Petrus, seine Brüder und Schwestern zu stärken, der für die Kirche unverzichtbar ist. "Der König ist tot, es lebe der König!" – hieß es früher in den Monarchien. Selbst der "Heilige Vater" ist kein "ewiger" Vater.

Das hätte man den herbeigeströmten jungen Menschen auf dem Petersplatz ruhig sagen können. Der Tod eines Papstes, und war er noch so beliebt, ist nicht das Ende der Kirche.

Aber wahrscheinlich hätten sie nicht zugehört und nur geklatscht, wie sie schon zu seinen Lebzeiten ihm zujubelten, wenn er davon sprach, daß die Jugend die Zukunft der Kirche sei, nicht aber zuhörten, wenn der selbe Mann wenige Sätze später von diesen Jugendlichen sexuelle Enthaltung und absolute Treue zur päpstlichen Kirche einforderte.
Es beeindruckte eben die Menschen mehr, wenn er auf seinen Reisen den Boden des Gastlandes küßte, wenn er zu Ostern und Weihnachten den Menschen der Urbi (der Stadt) und des Orbi (des Weltkreises) in den Sprachen der Welt seinen Gruß überbrachte. Selbst als die Last der Krankheit und des Alters ihn niederdrückte und ihm die Stimme raubte, faszinierte seine Willenskraft die Menschen. Manch Alten und Kranken hat er so Mut gemacht:

Wie damals den Menschen in Polen, denen er kurz nach seiner Wahl Mut machte, sich gegen die kommunistische Diktatur zu erheben.
Möglicherweise weil er eine Gefahr für den Kommunismus war, kam es am 13. Mai 1981 zu jenem nie ganz aufgeklärten Anschlag auf den Papst. Ausgerechnet der Atheist und spätere Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow, dessen Unterschrift gar unter dem Mordauftrag des KGB gestanden haben soll, schreibt in seinen Memoiren: "Alles, was in den letzten Jahren in Osteuropa geschehen ist, wäre ohne diesen Papst nicht möglich gewesen".
Den, der ihn töten wollte, besuchte er im Gefängnis, umarmte ihn, vergab ihm gar. So wie er selbst immer wieder um Vergebung bat für Unrecht, das im Namen der Kirche geschehen war: durch den kirchlichen Antisemitismus gegenüber den Juden, durch die Zwangsmissionierung der Ureinwohner Amerikas, durch die stillschweigende Duldung der Sklaverei.
1992 rehabilitierte er Galileo Galilei, der einst auf Druck der Kirche hin jene Lehre widerrufen mußte, die heute allgemeines Wissensgut der Menschheit ist, daß nicht die Erde der Mittelpunkt des Universums ist, sondern die Sonne, und die Erde sich eben um diese dreht: "Und sie bewegt sich doch!" – war der Satz, der Galileo berühmt gemacht hat.
1993 folgte eine ähnliche Rücknahme der Lehrverurteilungen gegenüber Nikolaus Kopernikus. Er hatte herausgefunden, daß die Erde täglich um ihre eigene Achse rotiert und sich jährlich um die Sonne bewegt, ebenso, wie es die anderen Planeten in anderen Zeiträumen tun.
1996 schließlich später wurde auch die Evolutionstheorie Charles Darwins, für im Grunde mit dem Glauben vereinbar erklärt. Darwins Entdeckung der Evolution war 1850 für viele Christen ein Schock gewesen. Der Mensch war doch das "Ebenbild Gottes". Daß er in gemeinsamer Ahnenreihe mit Einzellern und Schimpansen stehen sollte, war für die Kirche eines unfehlbaren Pius IX. schwer zu verkraften. Er glaubte, nun sei dem Atheismus Tür und Tor geöffnet.

Nach Johannes Paul II. sollten Wissenschaft und Glaube eigentlich keine unversöhnlichen Gegensätze mehr sein.

Die Opfer der Geschichte wurden durch ihn rehabilitiert, zugleich aber fuhr er selbst einen harten Kurs gegen seine Zeitgenossen, die als Theologen neue Wege der Glaubensvermittlung und Theologenausbildung versuchten: die einstigen Konzilsberater Hans Küng und Edward Schillebeeckx, den brasilianischen "Befreiungstheologen" Leonardo Boff, den nicaraguanischen Franziskaner Ernesto Cardenal, den amerikanischen Moraltheologen Charles Curran, um nur einige zu nennen.

Selbst Bischöfe, die nicht seinem Welt- und Kirchenbild entsprachen, fanden bei ihm keine Gnade wie der in seinem Bistum Évreus in Frankreich sehr beliebte Bischof Jacques Gaillot, dem ohne langes Federlesen sein Bistum weggenommen wurde, wogegen der Bischof von Chur, Wolfgang Haas, der von Anfang an mit seinem Klerus im Streit lag, lange vom Papst gehalten wurde. Erst als der Klerus drohte, das Bistum zu verlassen, hatte der Vatikan ein Einsehen, und ernannte Haas zum Erzbischof von Vaduz, das als Bistum eigens für ihn gegründet wurde.

Hunderte Menschen sprach Papst Johannes Paul II. selig und heilig – mehr als alle seine Vorgänger zusammen. Er zeigte damit, daß Heiligkeit etwas alltägliches sein kann.

Auf der anderen Seite scheint auch hier mit unterschiedlichem Maß gemessen worden zu sein: So wurde etwa der umstrittene Opus-Dei-Gründer Josémarie Escriva de Balaguer im Eilverfahren selig gesprochen, während der in El Salvador von einem regierungsnahen Killerkommando ermordete Märtyrerbischof Oscar Romero bis zuletzt ignoriert wurde.
Der vom Volk als der "Papa buono" bezeichnete Johannes XXIII. wurde sehr zögerlich erst im Jahre 2000 selig gesprochen und dann noch gleichzeitig mit Pius IX., unter dessen Pontifikat im Kirchenstaat immerhin noch die Todesstrafe praktiziert wurde.

Ein schlechter Papst war Johannes Paul II. nicht. Daran besteht kein Zweifel. Wirklich schlechte Päpste hat die Kirche ganz andere gesehen. Johannes Paul II. war fleißig, tief gläubig und gradlinig; jeder wußte bei ihm, woran man war.

Aber gerade weil er für alles eine Antwort hatte, ist er so manche Antwort schuldig geblieben. Viele Zeichen der Zeit wollte er nicht sehen und wahrhaben; alles, was nicht in sein Welt- und Kirchenbild paßte, ließ er nicht an sich heran, und wenn es ihn denn schon erreichte, verurteilte er es.

Der Historiker Guido Knopp brachte den Segen und die Tragik dieses Pontifikats auf die knappe Formel: "Die Freiheit, die er unzähligen Menschen in Osteuropa gebracht hat, konnte er den Menschen seiner eigenen Kirche nicht schenken."

So gilt es, sich dankbar vor diesem Leben zu verneigen und zu beten, was hoffentlich auch an unserem Grab einmal jemand beten wird:

Herr, unser Gott,
wir empfehlen dir unseren verstorbenen Bruder.
In den Augen der Welt ist er tot.
Laß ihn leben bei dir.
Wir danken dir für alles Gute,
das wir durch ihn erfahren durften.
Und was er aus menschlicher Schwäche gefehlt hat,
das tilge du in deinem Erbarmen.
Durch Christus, unseren Herrn.

von Heribert Ester
03.04.2005

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